Eine einzigartig vorurteilslose Wohnung (1)

Arabisches Schlafzimmer im Wohnhaus von Wolfgang Gurlitt, ca. 1917.
Foto: Bildarchiv Foto Marburg. Quelle: www.fotomarburg.de.
Mit freundlicher Genehmigung des Bildarchivs Foto Marburg.
„Alice folgte Rosa durch den Flur und die Treppe hinauf in den ersten Stock.
„Wollen wir doch mal sehen, in welchem Zimmer wir dich unterbringen.“
„Falls ich Umstände mache, kann ich auch in eine Pension gehen, Rosa. Das wäre kein Problem!“
Rosa winkte ab, öffnete eine Tür und schloss sie gleich wieder. „Humbug“, erwiderte sie und öffnete die nächste. „Dieses Haus ist groß genug … Ahh, sieh mal, hier. Das müsste funktionieren.“ Sie zog die Tür ganz auf und schob Alice in eine kleine Zimmerflucht, die einem Traum aus Tausendundeiner Nacht entsprungen zu sein schien. Das hatte Johann also gemeint, als er von einem arabischen Schlafzimmer und einem Spiegelkabinett gesprochen hatte, das Helena nie benutzt hatte. Staunend und mit weit geöffneten Augen betrat sie den kleinen Vorraum, dessen Wände mit Sternen bemalt waren. Neben einer Waschgelegenheit mit dreiteiligem, bodentiefem Spiegel befand sich ein großer, in die Wand eingelassener Kleiderschrank. Durch einen Durchgang, der mit einem Vorhang vom Vorraum abgetrennt war, konnte sie einen Blick auf ein oval gerundetes Schlafzimmer erhaschen. Ihr Blick blieb an der in Gold- und Silbertönen gehaltenen Wandbemalung hängen, die sich scheinbar ohne Anfang und Ende um den ganzen Raum zog. Auf einem kleinen Podest stand das Bett, dessen Fußende eine in Holz geschnitzte Danae zierte, die von einem strahlenden Goldregen umgeben war. Links ein ebenfalls expressionistischer Toilettentisch mit drei rautenförmigen Spiegeln, rechts ein dick gepolstertes Sofa.“
(Aus: Zeitenwende am Potsdamer Platz von Alexandra Cedrino, „Gästezimmer“, S. 85 - 86)
Berlin, 1917
Nur wenige Schritte von der Potsdamerstraße entfernt, stand man in einer kleinen und sehr gediegenen Straße. Das Leben in einer der schlichten, zweistöckigen Villen konnte sich nicht jeder leisten. Und selbst diejenigen, die es konnten, litten im Jahr 1917 unter Kriegsmüdigkeit und Hunger. Doch im Gegensatz zur breiten Masse konnten sie sich auf dem Schwarzmarkt mit Lebensmitteln eindecken. Butter war längst ein Luxus, Eier und echtes Brot waren Mangelware, und Kartoffeln waren kaum zu finden. Stattdessen beherrschten Steckrüben die Speisepläne.
Frauen und Kinder sammelten Zigarettenreste, um ihr knappes Einkommen aufzubessern, indem sie diese an Tabakhändler verkauften. Mit dem erzielten Erlös konnten sie sich in den Volksküchen oder mobilen Feldküchen entlang der Straßen eine einfache Mahlzeit leisten. Doch oft reichte es nicht einmal dafür.
Zwischen 1914 und 1918 forderte der Hunger, Unterernährung und Krankheiten, denen die geschwächten Körper der Menschen nichts mehr entgegensetzen konnten, in Deutschland etwa 700.000 Menschenleben.
Während auf den Straßen Berlins die ersten Hungerproteste ausbrachen und der Schwarzhandel blühte, stürzte Wolfgang sich in ein luxuriöses Projekt, das ihm eine vorübergehende Flucht aus dem tristen Kriegsalltag ermöglichte: den Umbau seiner Galerie- und Wohnräume durch den renommierten Architekten Walter Würzbach (2). Wolfgangs Ziel war nichts Geringeres als die Schaffung eines expressionistischen Gesamtkunstwerks. Er strebte nach Beeindruckendem und Unerhörtem, nach etwas, das die Sinne erbeben ließe und deutlich machte, wie sehr er sich als Kunsthändler und Mäzen der Moderne verschrieben hatte.
Trotz ständiger Unterbrechungen durch den Mangel an Arbeitskräften und Material gelang es ihm, seine Pläne Stück für Stück umzusetzen. Schließlich, noch vor Kriegsende am 1. Juni 1918, eröffnete er die neu gestaltete Galerie mit einer Ausstellung von Werken von Max Pechstein (3). Die Mühen, die Arbeit und die beträchtlichen finanziellen Investitionen hatten sich gelohnt.
In der Abenddämmerung des 9. November 1918, als die Extrablätter mit der Schlagzeile „Abdankung des Kaisers“ erschienen, verwandelte sich Deutschland von einer kriegführenden Monarchie in eine erschöpfte und geschlagene Nation. Während die Kämpfe an den Fronten beendet waren, brachen nun innere Konflikte auf. Welchen Weg sollte Deutschland einschlagen? Soldatenräte, Spartakisten, Reichswehr, Sozialdemokraten und Zentrumspolitiker rangen nicht nur mit Worten um Entscheidungen. Seltsame Allianzen wurden geschmiedet, deren Bestand fraglich war. Immer wieder fielen Schüsse, ein drohender Bürgerkrieg lag in der Luft. Während viele über die bedrückenden Kapitulationsbedingungen von Versailles entsetzt waren, bedeutete der "Schandfrieden" für Wolfgang vor allem eines: Endlich konnte er sich mit ganzer Kraft seinen Projekten widmen. Auch seine Wohnstätte, die Villa II, sollte völlig neugestaltet werden und alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen.
Einer der Künstler, die er für die Verwirklichung seines Traums engagierte, war Max Pechstein. Bereits 1914 hatte er Pechstein 10.000 Mark für eine Südseereise geliehen und dessen Familie während der Kriegsjahre finanziell unterstützt. Nun forderte er die Rückzahlung in Form von neuen Gemälden für die Galerie sowie Entwürfen und Kartons für Glasfenster und Mosaiken.
Das Gesamtergebnis erwies sich in jeder Hinsicht als extravagant. Ganz Berlin staunte 1921 über die mondäne und exzentrische Einrichtung. Hätte sich Wolfgang eine bessere Werbung für seine Kunsthandlung vorstellen können? Würde er sich damit nicht endgültig als aufgeschlossener und fortschrittlicher Kenner seines Fachs etablieren? Obwohl böse Stimmen von einem „Neuschwanstein des Expressionismus“ sprachen, gab es in diesem märchenhaften Gebäude unendlich viel zu entdecken: Porzellan, Gläser, Tapisserien, Teppiche, Möbel, Nippes, Bibelot, Raritäten, Kuriositäten, künstlerisch Erlesenes vom Biedermeierspielzeug bis zum „Negerfetisch“, von der „Negermaske“, von Netzuke bis zu Mosaiken, gläsernen Wandverkleidungen und bunten Glasfenstern von Pechstein und Cesar Klein (4) sowie Bildern von Lovis Corinth (5) und Oskar Kokoschka (6).
Und dann die exotischen Räume, in die man durch einen Durchgang mit Pechsteins farbenprächtigen Mosaiken und über eine kurze Treppe gelangte: Das Spiegelkabinett mit seinen zwei großen Glasfenstern, die elektrisch durchleuchtet wurden und ins scheinbar Unendliche strahlten, wirkte, als sei es aus der Zeit gefallen, als ob „ein Stück Traum- und Märchenspiel Wirklichkeit angenommen hätte“.
Das oval gerundete Schlafzimmer mit seiner umlaufenden Wandmalerei auf silbrigem Grund schien direkt aus „Tausendundeiner Nacht“ zu stammen und wurde durchflutet von farbigem Licht durch ein von Pechstein entworfenes Glasfenster mit dem Titel „Das Urteil des Paris“. Gegenüber der Tür thronte ein Bett auf einem kleinen Podest, dessen Kopf- und Fußende mit expressionistischen Schnitzereien von Rudolf Belling (7) geschmückt waren. Das angrenzende Badezimmer, ebenfalls von farbigem Licht durchströmt, wurde von Glasfenstern von Pechstein und Klein erhellt.
Doch guter Geschmack muss finanziert werden. Wolfgang konnte nicht mit Geld umgehen. Es zu verdienen, es auszugeben, war für ihn kein Problem. Es zusammenzuhalten schon eher. Der Aus- und Umbau, sein großzügiger Lebensstil verschlangen Unmengen von Geld. Die Hyperinflation fraß es förmlich auf, und was an einem Tag nicht ausgegeben werden konnte, war am nächsten nichts mehr wert!
So war es für Wolfgang eine große Erleichterung, als sich herausstellte, dass seine 1919 eingestellte Mitarbeiterin Lilly Agoston, eine ungarische Katholikin jüdischer Abstammung, ein Auge für Finanzen hatte und ihm bei der Bewältigung aller praktischen Angelegenheiten helfen konnte. Bald wurde die kluge und umsichtige Lilly, die er wegen ihres scharfen Verstandes und ihrer Willenskraft schätzte, seine rechte Hand, Geschäftspartnerin und beste Freundin ihr Leben lang. Bis zu ihrem Tod sollte sie ihm treu zur Seite stehen.
Aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag …
(1) Wohnung Wolfgang Gurlitt von Paul Westheim, erschienen in: „Das Kunstblatt“, 12/1921, Hg. Paul Westheim
(2) Walter Würzbach
(3) Max Pechstein
(4) César Klein
(5) Lovis Corinth
(6) Oskar Kokoschka
(7) Rudolf Belling
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