Fritz und Annarella Gurlitt

Titelbild

Porträt von Fritz Gurlitt, gezeichnet von Max Liebermann.
Das Bild ist gemeinfrei. Quelle: Wikimedia Commons


Titelbild

Porträt von Annarella Gurlitt, gemalt von E. Hildebrand.
Aufnahme von einem Großformat-Negativ. Das Gemälde ist gemeinfrei.
Hinweis: Auch das Fotoarchiv Marburg besitzt eine ähnliche Aufnahme.
Quelle: Privatarchiv. © Alexandra Cedrino


Ausgerechnet in einer Irrenanstalt endete die Ehe meiner Urgroßeltern. Nicht gerade glamourös - auch wenn es sich um eine private Heilanstalt für wohlhabende Patienten handelte. Und obwohl alles aufs Angenehmste eingerichtet war - weitläufige Parkanlagen luden zum Spazieren ein, es gab einen Konzertsaal, einen Billardsalon, eine Terrasse, einen Blumengarten und Weinlauben - war es doch eine Irrenanstalt mit Sicherheitsbetten und vergitterten Fenstern. Der zahlungskräftige Patient, der hier - in der Güntz'schen Heil- und Pflegeanstalt - untergebracht war, hieß Fritz Gurlitt und war Kunsthändler. Die Diagnose: progressive Paralyse, verursacht durch eine unbehandelte Syphilis. Die Symptome: Persönlichkeitsveränderung, Neigung zu Größenwahn, Halluzinationen, Sprachstörungen, motorische Unruhe und Epilepsie. Heute kann Syphilis mit Antibiotika behandelt werden - 1892 war das noch nicht möglich. Der Krankheitsverlauf kann sich über Jahre hinziehen. Nicht so bei Fritz. Im März 1892 kam er in die Maison de Santé in Berlin-Schöneberg, im September in die Güntz'sche Heilanstalt - und im Februar 1893, wenige Tage vor dem fünften Geburtstag seines Sohnes Wolfgang, war er bereits tot.

Dabei hatte alles so gut begonnen! 1881 heiratete er Annarella Imhof, die Tochter des Schweizer Bildhauers Heinrich Imhof in Rom, wo sie aufgewachsen war. 1882 kam Tochter Angelina zur Welt, 1885 Margarete und am 15. Februar 1888, einem Aschermittwoch, um 23.45 Uhr der erste Sohn Wolfgang Ludwig Heinrich Karl. 1890 komplettierte der Jüngste, Manfred, die rasch wachsende Familie. Fritz liebte seine dunkelhaarige, temperamentvolle Frau. Waren sie durch Geschäftsreisen getrennt, unterzeichneten sie ihre Briefe mit „lots, lots of love“. Sie waren gerne für sich, suchten nicht den engen Kontakt zur Familie, was Annarella später den Vorwurf einbrachte Fritz zu 'vereinzeln'.

Geschäftlich war Fritz sehr erfolgreich. Er schätzte vor allem die neue deutsche Malerei, den Realismus und Individualismus eines Max Liebermann oder Lesser Ury. Eine Erneuerung, die sich an der französischen Malerei orientierte, ohne sie zu imitieren, war ihm wichtig. Sein vehementes Engagement stieß jedoch bei vielen Zeitgenossen auf Unverständnis. Gegen alle Widerstände gelang es ihm trotzdem, seinen Kunstsalon als eine der führenden Kunsthandlungen Berlins zu etablieren.

Der Erfolg stärkte sein Selbstvertrauen. Die Weltausstellung in Chicago 1893 war das große Ziel.

Um zu zeigen, dass er sich auch auf internationalem Parkett behaupten konnte, beschloss er, an der 'German Exhibition' 1891 in London teilzunehmen. Mit Frau und Kindern reiste er nach England, brachte sie bei seinem Bruder Otto unter, der schon seit Jahren als Bankier in England lebte, und stürzte sich in die Arbeit. Als 'Director for the Fine Art Section' war er für die Hängung der Bilder verantwortlich. Er legte sich mächtig ins Zeug, hatte „furchtbar gearbeitet und […] einen moralischen Erfolg erzielt […]“ . (1)

Doch schon wenige Monate später machten die Symptome einer unbehandelten Syphilis einen Strich durch die Rechnung. Fritz' Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide. Sein Bruder Cornelius übernahm vorübergehend die Geschäfte. Es wurden Regelungen für den schlimmsten Fall getroffen. Aber die Unterstützung galt Fritz und den Kindern, nicht seiner Frau. Mit der selbstbewussten Annarella kam die Familie Gurlitt nicht zurecht. Eine Urschel (2) mit Spatzenhirn (3) sei sie, beschrieb sie ihr Schwager Cornelius in einem seiner Briefe.

Am 08. Februar 1893 - mit nur 39 Jahren - starb Fritz an den Folgen seiner Krankheit.

Was sollte nun aus der Galerie und seiner Familie werden? Sicherlich wäre es einfacher gewesen, dem Wunsch der Familie Gurlitt zu entsprechen, den Kunstsalon zu verkaufen und sich mit den Kindern aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, bis ein standesgemäßer Heiratskandidat auf der Bildfläche erschien. Doch Annarella war alles andere als bereit, sich der ungeliebten Familie unterzuordnen. Sie wollte unabhängig sein, mit der Familie brechen und ihre eigenen Ideen verwirklichen. Doch dazu brauchte sie einen Mann. Noch vor Fritz' Tod hatte sie einen gefunden, der sie heiraten wollte. Es sollte der Teilhaber Willy Waldecker sein, der noch von Fritz selbst in die Firma aufgenommen worden war. Für die Gurlitts sah das alles nach treulosem Verrat und Ehebruch aus. Eine Hure sei sie, beschimpfte sie der Bruder ihres verstorbenen Mannes, Cornelius, noch am Vorabend der Beerdigung und warf sie hinaus.

Die erst 37-jährige Witwe heiratete noch im selben Jahr. Die Töchter Angelina und Margarete waren elf und acht Jahre alt, Wolfgang knapp fünf und Manfred erst drei. Ihre Mutter hatte von nun an wenig Zeit für sie, da sie sich gemeinsam mit ihrem Mann um das Geschäft kümmern musste.

Ein Riss ging durch die Familie Gurlitt, der nie mehr ganz geheilt werden konnte. Die Gurlitts standen Annarella und ihrem zweiten Mann feindselig gegenüber. Der Kontakt zwischen den Familienzweigen blieb ab da unterkühlt und sporadisch.

1907 trat Annarellas Sohn Wolfgang in das Geschäft ein und übernahm von Anfang an Verantwortung. Zwar arbeitete er fünf Jahre lang ‘nur’ als Angestellter des Kunstsalons Fritz Gurlitt, doch brachte er frischen Wind in die darniederliegende Galerie. Und der war bitter nötig. In den Jahren seit dem Tod seines Vaters hatte sich die deutsche Kunst(handel)landschaft grundlegend verändert. Der ‘Kunstsalon Fritz Gurlitt’ war nicht mehr der einzige, der sich für progressive und avantgardistische Kunst einsetzte. Die Konkurrenz war erheblich gewachsen. 1912 übernahm Wolfgang Gurlitt schließlich die Geschäfte.

Wie er die Galerie wieder konkurrenzfähig machte, ist eine andere Geschichte …

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(1) Archiv Cornelius Gurlitt, TU Dresden, Brief vom 04.06.1891 von Fritz Gurlitt an Wilhelm (Memo) Gurlitt

(2) Archiv Cornelius Gurlitt, TU Dresden, Brief vom 05.02.1893 von Cornelius Gurlitt an Wilhelm (Memo) Gurlitt

(3) Archiv Cornelius Gurlitt, TU Dresden, Brief vom Dezember 1887 von Cornelius Gurlitt an Wilhelm (Memo) Gurlitt

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