„Die gerettete Moderne – Meisterwerke von Kirchner bis Picasso“,
Kupferstichkabinett, Berlin

Titelbild

Wolfgang Gurlitt in seiner Wohnung in der Potsdamer Straße, Berlin, um 1926.
Quelle: Privatarchiv. © Alexandra Cedrino


Egal, wohin ich in Berlin gehe, welches Buch oder welchen Katalog ich aufschlage, ich stoße immer wieder auf meine Familie. Oder besser gesagt: auf meinen Urgroßvater Fritz (1854 - 1893) oder meinen Großvater Wolfgang Gurlitt (1888 - 1965). Beide waren zu ihrer Zeit angesehene Kunsthändler.

Mein Urgroßvater gründete den Kunstsalon Fritz Gurlitt. Seine Galerie wurde von aufgeschlossenen Kritikern geschätzt, da sie im eher provinziellen Berlin einen klaren Akzent in Richtung Moderne setzte.

„Das dritte Geschäft“, so beschrieb ein Zeitgenosse (1) seine Galerie in einem 1887 erschienenen Buch, „liegt in der Behrenstraße, der ersten Parallelstraße zu den Linden. Es ist das einzige künstlerische Geschäft in ganz Berlin. Hier herrscht Herr Gurlitt, ein noch junger, sehr intelligenter Mann, der über alles, was jenseits der Grenzen in der Kunst passiert, Bescheid weiß. Der Laden ist eng, aber dort finden von Zeit zu Zeit gute Ausstellungen, manchmal eines, manchmal mehrerer Meister, statt. Denkwürdige Kühnheit: dort war eine Ausstellung französischer Impressionisten zu sehen. Wenn Berlin ein bißchen kunstverständig wird, wird es Herrn Gurlitt zu verdanken sein.“

Fritz' Sohn Wolfgang Gurlitt, der 1907 im Alter von 19 Jahren in das Unternehmen eintrat und 1914 die Leitung übernahm, wollte das von seinem Vater eingeführte Programm beibehalten und fortführen. Immer wieder stellte er Werke von Künstlern wie Leibl, Thoma, Böcklin, Uhde und anderen anerkannten Größen des 19. Aber sein Gespür sagte ihm, dass er nach vorne schauen müsse, dass er sich um die jungen Künstler kümmern müsse, auch oder gerade wenn sie noch nicht bekannt waren und oft geschmäht wurden. Wolfgang Gurlitt hatte ein feines Gespür für Entwicklungen und Strömungen und es gelang ihm, einige der bekanntesten Maler und Grafiker für sich zu gewinnen. Namen wie Alfred Kubin, Oskar Kokoschka, Lovis Corinth, Max Slevogt, Curt Herrmann, Ernst Seewald, Jeanne Mammen, Rudolf Belling oder Richard Janthour werden immer mit ihm verbunden bleiben.

Ein für Wolfgang Gurlitt besonders wichtiger Künstler war Max Pechstein. Kurz bevor sich die Brücke-Gruppe 1913 auflöste, gelang es ihm 1912, die einzige geschlossene Ausstellung der Gruppe in Berlin zu organisieren - und damit den Grundstein für eine mehrjährige fruchtbare Zusammenarbeit mit dem gefragtesten Mitglied der Vereinigung, Max Pechstein, zu legen.

Bereits 1914 hatte er als zweites Standbein den 'Kunstverlag Gurlitt' gegründet. Immer mehr Sammler interessierten sich für Grafiken, die im Vergleich zu Gemälden wesentlich preiswerter und vor allem leichter aufzubewahren waren.

Nach dem Krieg riss das Interesse an dieser Kunstform nicht ab - im Gegenteil. Auch andere Kunsthändler und Verleger erkannten die Vorteile dieser Interessenverschiebung. Ein Gemälde konnte nur ein einziges Mal verkauft werden - Druckgrafik hingegen erschien in viel höheren Auflagen!

Hinzu kam, dass es nach dem Krieg zwar an Lebensmitteln mangelte, nicht aber an gutem Papier und billigen Arbeitskräften, was die Gewinnspanne erheblich verbesserte.

So überschwemmte gerade in den Jahren vor der Weltwirtschaftskrise 1929/30 eine Unzahl großer und kleiner Verlage den Markt.

Viele von Gurlitts ‚Hauskünstlern‘ wie Corinth, Kokoschka, Kubin und Pechstein beschäftigten sich mit Graphik. Was lag da näher, als diese - zusammen mit Texten, Aufsätzen und Essays namhafter Kunsthistoriker, Kritiker und Literaten - in größeren Auflagen zu publizieren.

Das Verlagsprogramm, das Wolfgang Gurlitt zusammen mit seinem Herstellungsleiter Paul Eipper von 1920 bis 1924 entwarf und betreute, war anspruchsvoll. Es erschienen Kunstbücher, Einzelgrafiken, Mappenwerke, Jahrbücher, illustrierte Bücher und Malerbücher in den unterschiedlichsten Formaten und Ausstattungen, mit kostbaren Einbänden und handsignierten Originalgrafiken auf Japan- oder Büttenpapier. Neben diesen Prachtausgaben wurden aber auch preiswertere Versionen in bescheidenerer Ausstattung mit unsignierten Drucken herausgegeben.

Als ich daher vor wenigen Tagen die Ausstellung „Die gerettete Moderne - Meisterwerke von Kirchner bis Picasso“ im Kupferstichkabinett besuchte, war es nur folgerichtig, dass ich auch einigen Werken begegnete, die mein Großvater im Namen der Galerie Gurlitt dem Kupferstichkabinett geschenkt hatte.


Titelbild

Lovis Corinth - Selbstbildnis - Ausstellung Kupferstichkabinett Berlin


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Alfred Kubin - Die Erde zittert - Ausstellung Kupferstichkabinett Berlin


Titelbild

Max Pechstein - Bildnis Karl Schmidt Rottluff - Ausstellung Kupferstichkabinett Berlin


Das war und ist gängige Praxis. Denn ist ein Künstler erst einmal von offizieller Seite in eine Sammlung aufgenommen, steigert das natürlich auch seinen Marktwert. Eine Win-Win-Situation also für alle Beteiligten: den Künstler, den Galeristen und die sammelnde Institution.

Zeitsprung ins Jahr 1937: Im Sommer wurden im Rahmen der nationalsozialistischen Aktion „Entartete Kunst“ in großem Umfang Werke der Klassischen Moderne als „Verfallskunst“ aus deutschen Museen und Sammlungen entfernt, vernichtet oder ins Ausland verkauft. Auch das Berliner Kupferstichkabinett war von den Beschlagnahmungen betroffen.

Doch hier gelang es dem damaligen Kustos Willy Kurth (1881 - 1963), besonders wichtige Konvolute bedeutender Künstler*innen zu retten, indem er sie hinter dem Rücken seines gegenüber den Nationalsozialisten kooperativen Direktors erfolgreich gegen weniger wichtige Werke austauschte und in anderen Bereichen der Sammlung versteckte. Er wusste, was er riskierte, denn sein Engagement für die Moderne war seinen Vorgesetzten bekannt.

Die Ausstellung zeigt anhand von rund 95 Arbeiten, was Willy Kurth an druckgrafischen Einzelblättern und Mappenwerken beherzt gerettet und damit vor dem Verlust bewahrt hat.

Viele der als „entartet“ beschlagnahmten Werke wurden, nachdem sie als verkäuflich eingestuft worden waren, in das zum Zentraldepot umfunktionierte Schloss Niederschönhausen in Berlin-Pankow gebracht, wo sich bald vier von offizieller Seite eingesetzte Kunsthändler um ihre Verwertung kümmerten. Darunter war auch der Cousin meines Großvaters, Hildebrandt Gurlitt. Und auch Wolfgang Gurlitt hatte - zumindest anfangs - Zugang zu diesem riesigen Kunstschatz. Aber das ist wieder eine andere Geschichte ...

Wer gerade in Berlin ist, sollte sich die Ausstellung Die gerettete Moderne - Meisterwerke von Kirchner bis Picasso" nicht entgehen lassen, die noch bis zum 21. April 2024 im Kupferstichkabinett am Matthäikirchplatz in Berlin zu sehen ist.

Wer sich darüber hinaus für die Geschichte Willy Kurths und seiner Rettungsaktion interessiert, dem sei folgender Blog-Artikel empfohlen: Willy Kurth


(1) Jules Laforgue, „Berlin – Der Hof und die Stadt, 1887“, Insel-Bücherei Nr. 943, S. 98 – 99. Dass ich auf dieses Zitat gestoßen bin, freut mich besonders, weil ich damit wieder einmal eine Querverbindung entdeckt habe, die mich freut. Jules Laforgue, eigentlich Dichter, war in Paris Sekretär von Charles Ephrussi, einem bedeutenden Kunstsammler und -kritiker. Wer das Buch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ von Edmund de Waal gelesen hat, wird diesen Namen kennen. Wer es noch nicht gelesen hat, dem sei es wärmstens empfohlen!

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